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Europäische Jonglierconvention 2019 in Newark - Review

Kaya auf der EJC2019

Ein Bericht über die EJC 2019 von Kaya Schmidt.

"I survived EJC 2019"

Stell einen Ort vor mit tausenden Menschen, die sich zum Hobby oder sogar Beruf gemacht haben, niemals Langeweile aufkommen zu lassen. Das ist die European Juggling Convention - kurz EJC, die jährliche Klassenfahrt von Jongleuren und Artisten aus aller Welt. Acht Tage lang Campen, Jonglieren, Balancieren, Turnen, Workshops, Shows, Turniere und Party. Es ist mein drittes Jahr auf der EJC, die jedes Jahr woanders stattfindet. Letztes Jahr führte die Reise in den Dschungel der Azoren, mitten im Atlantik. Diesmal fahren wir nach Newark upon Trent, England.

"Und, wie wars auf dieser Euro… ähm was nochmal?" werde ich gefragt, man beäugt mein braungebranntes Gesicht und ich fühle mich so fremd und verändert, als wäre ich ein Jahr durch die Welt getrekkt, und hätte nicht nur eine Woche auf einem Zeltplatz in Großbritannien verbracht. Doch die EJC verändert einen tatsächlich fundamental. Dieser Bericht ist ein Versuch, genau das zu erklären, auch wenn es vermutlich unmöglich ist.

DB lässt grüßen

Ich schreibe das hier in der Wartehalle von St. Pancras, London, umgeben vom Geruch nach Erbsenpups und dreckigem Gepäck. Mein Campingmesser wurde konfisziert, meinen Zug zurück nach Deutschland habe ich gerade verpasst und noch keine Ahnung wann und wo dieser Reisetag endet. Warum soll der Rückweg auch anders verlaufen als der Hinweg? (Der Bruch eines Wasser-Reservoirs bei Sheffield sorgte für heimische DB-Konditionen inklusive Streckensperrung und einer ganztägigen Bimmelbahntour durch England um doch noch irgendwie nach Newark upon Trent zu gelangen.)
Nicht umsonst steht auf meinem T-Shirt der diesjährigen European Juggling Convention ein kleiner, handgeschriebener Zusatz: "I survived EJC2019."

Heavy Metal Handstands

Die European Juggling Convention war ein stürmisches Erlebnis. Eine Herausforderung, die Balance zu halten. Schon kurz nach der Ankunft auf dem riesigen Gelände - früher ein Flughafen, jetzt Eventlocation und vollgestellt mit Zirkuszelten, bunten Installationen, Slacklines, Hochseil-Plattformen und wehenden Fahnen - laufe ich in eine Gruppe von Menschen, die zu schreddenden Gitarren auf ihren Händen balancieren, lauthals motiviert von einem bunthaarigen, durchtrainierten Punk. Es handelt sich um den Workshop "Heavy Metal Handstands", jeden Morgen von 10-11 im Spielzelt. Und eine gute Metapher für die EJC. Denn hier steht alles auf dem Kopf, hier ändern sich Perspektiven, hier entdeckt man seine eigenen Fähigkeiten und Unfähigkeiten, hier fällt man lachend übereinander.

Falleri, Fallera

Überhaupt fällt hier viel. Besonders in der großen Jonglierhalle, der "Main Juggling Hall".
Man trifft sportive Sunnyboy-Jongleure mit Adidas Socken und zu vielen neonfarbenen Keulen, Flowartisten/innen mit Dreadlocks, Haremshosen und Tattoos, nerdig bebrillte Funktionsjackentraeger/innen und Kinder jeden Alters. Es gibt eine "Passing Zone", in der mehr Keulen auf scheinbar unmöglichen Wegen durch die Luft fliegen und den Jongleur wechseln als mit menschlichem Verstand begreifbar ist. Die gleichen Jongleure trifft man im Laufe der Woche auch beim "Volleyclub" Turnier oder der "Fightnight" - lustige Jonglageherausforderungen für alle, denen es noch nicht schwierig genug ist 3-9 Gegenstände gleichzeitig in der Luft zu halten. Volleyclub ist eine Art Beachvolleyball. Nur dass statt einem Ball eben Keulen übers Netz fliegen - hoch, weit, tief und gemein. Richtig gemein wird es allerdings erst bei der Fightnight: hier stehen sich die besten Jongleure der Welt gegenüber und versuchen sich gegenseitig die Keulen aus der Hand zu schlagen, während sie selbst mit ziemlich vielen davon hantieren. Die Atmosphäre ist wie bei einem Boxkampf, die Menge johlt und stößt gutturale Schreie aus, die von den Wänden wiederhallen.
Ich sehe vom Kampf nicht viel, weil zu viele Leute davor stehen. Man kann hier auch gar nicht alles sehen. Es gibt einfach zu viel zu sehen. Besonders in diesem Jahr haben sich die Veranstalter alle Mühe gegeben ein fettes Programm auf die Beine zu stellen: Die Unicycle-Championships finden statt, die Whipcracking-Championships und die Diabolo-Weltmeisterschaft. Beim Mittagessen im Diner treffe ich Jack Dagger, der erzählt, dass er wegen der International Knife-Throwing Championships hier ist.

Renegade

Trotz aller Championships geht es selten allzu ernst zu. Letzten Endes ist die EJC sowieso ein riesiger Spielplatz. Lieblingsspiel und all-abendiches Highlight: die Renegade. Die Renegade ist eine Art offene Bühnenshow, die so lange geht, wie jemand aus der Menge bereit ist, auf die Bühne zu kommen und einen Trick vorzuführen.

  1. Der Trick sollte möglichst krass, bescheuert, witzig, oder gut sein.
  2. Das Publikum entscheidet, ob du mit dem Trick ein Bier oder einen Schnaps oder einen Brownie verdient hast.
  3. Wenn der Trick misslingt, muss ein Kleidungsstück ausgezogen werden (viele nackte Körperteile gegen 4 Uhr morgens)
  4. Wenn der Trick zu lahm ist, jonglier dabei oder mach ihn nochmal mit einer Kartoffel.
  5. Wenn du denkst, dass du einen Trick besser kannst, darfst du auf die Bühne kommen und eine Challenge ausrufen - was meistens eher in einer gemeinschaftlichen, irren Aktion endet

Ich habe in den vergangenen Jahren 5 Schnäpse und 3 Bier auf Renegades gewonnen. Dieses Jahr johle ich nur mit, während sich 3 Zirkusartisten übereinander stapeln, oder Fence-Boy eines der 4x2 Meter großen Metallabsperrgitter auf seinem Kinn balanciert und dabei jongliert. Grundsätzlich ist alles möglich, besonders auf der Renegade.

Motivation und Minderwertigkeitskomplexe

All die Möglichkeiten können einen auch überfordern. Manchmal muss man auch einfach die Nacht durchfeiern und dann den ganzen Tag auf dem Zeltplatz versacken und herumtingeln. Man kann jedoch auch von morgens bis abends Workshops besuchen, die zu Hunderten auf einem riesigen Bord angeboten werden (oder natürlich selbst einen anbieten). Bei den meisten Workshops kann man einfach dazustoßen. Oder einfach jemanden ansprechen, der einen coolen Trick beherrscht. So passiert es oft, dass man ungeahnt etwas völlig Neues entdeckt, das einen die nächsten Jahre begleiten und begeistern wird. Kein Wunder, hier kommen die Profis und Enthusiasten aus aller Welt zusammen. Bei so viel geballter Inspiration und Talent und Disziplin ist es selbst mit 15 Jahren Berufserfahrung als Feuerartistin sehr schwer, sich nicht zu vergleichen und minderwertig zu fühlen. Auch das macht die EJC. Die Aufgabe ist, darüber hinaus zu sehen, und es als Inspiration zu nehmen für das was möglich ist. Denn dann ist die EJC die größte Motivation die es gibt. Und wie der Meister von "Heavy Metal Handstands" sagt: "Fuck who is better. There is always someone better, but we are all gonna die. So just try it!"

Bürokratie

Am Mittwoch findet die Versammlung der European Juggling Association statt, dem Dachverband der Jongleure in Europa. Die EJC 2020 kann leider doch nicht in Leipzig stattfinden, nun muss entschieden werden ob es Spanien oder Finnland wird. Bei der Versammlung sind vor allem Deutsche. "Why are so many Germans here?" fragt der Moderator. Einer antwortet ehrlich und zur allgemeinen Erheiterung: "We love Bureaucracy!" Am Ende entscheidet man sich für Finnland. Meer, Sauna und Mitternachtssonne. Und vor allem: Die bessere Planung. Und mit der steht und fällt die EJC. Denn so ein vielfältiges Riesen-Event zu organisieren ist eine echte Herausforderung. Das merkt man besonders in diesem Jahr.

Realität

Die Eröffnungsparade durch den Ortskern - sonst ein episches, Mardi-Gras ähnliches Highlight - endet aus bürokratischen Gründen schon nach einer Meile, und man fragt sich, warum man hierfür so viele Busse voller Menschen vom Showground in die Stadt herübergekarrt hat.
Wir warten 4 Stunden im Regen auf die Feuergala - als Feuerartistin mein persönliches Highlight. Sie soll vor der spektakulären Kulisse des Newark Castle stattfinden, doch Licht und Ton sind im Eimer und die Gala muss nach der Hälfte abgebrochen werden.
Die Toiletten sehen aus wie die Szenerie in einem Splatterfilm. (Bei 2000 Frauen menstruieren rein statistisch gesehen 500 davon, verteilt auf vielleicht 50 minus 30 verstopfte Klos ohne Klobürsten)
Es gibt einige frustrierende Momente dieses Jahr. Das Essen ist teuer, der Supermarkt auf dem Gelände ist klein und kaum geöffnet, die Stadt zu Fuß nicht erreichbar. Nicht jedem passt die neue, eigentlich ziemlich coole bargeldlose Bezahlweise mit dem aufladbaren Chip im Armband. Ein Freund verliert seine Lieblingsjacke, ich mein Handy. Eine andere Freundin bekommt schlimme Neuigkeiten von zu Hause. Die Realität macht auch vor dieser bunten Parallelwelt nicht Halt.
Ich stehe mit Ben aus Irland zusammen, den ich schon seit meiner ersten EJC kenne. Warum meckern alle? Fragt Ben. Gibt es nicht auch was Gutes über diese EJC zu sagen?
Ja, gibt es. Viel sogar. Wieder zu viel, um alles zu sagen.

Magie

Und es wäre nicht die EJC, wenn sich nicht in jeder Situation ein freundliches Gesicht fände, das einem mit aufmunternden Worten und einem unerwarteten magischen Trick ein Lächeln aufs Gesicht zaubern würde.
Heiko schleppt mich ins Zelt von Rumpel. Rumpel ist ein alter britischer Clown, dessen Shows mindestens 24 Stunden dauern. 24 Stunden Nonsense und absurdem Humor. Eine Armada aus Koffern voll Schwachsinn. Rumpel sucht sein Ladegerät. 8 Stunden später schaue ich mit meinem Frühstückskaffee wieder vorbei und werde Zeugin wie er es findet.
Am Abend wird Rumpel zum krönenden Abschluss völlig fertig und luftgitarrespielend zu "Ironman" aus dem Zelt getragen.
Mein persönliches, magisches Highlight ist jedoch der Firespace. Einer der schönsten, die ich je gesehen habe, riesengroß und psychedelisch dekoriert. Eine Tanzfläche für Feuerjongleure, hervorragend organisiert mit eigenem DJ. Die Fire Open Stage - eigentlich eine Art Nachwuchs-Show - übertrifft alle Erwartungen, selbst die der offiziellen Feuergala. Grossartige Feuerkünstler, atemberaubende Tricks und noch nie gesehene Feuer-Requisiten.
Ich verbringe jeden Abend auf dem Feuerspace - bis das Wetter einen Strich durch die Rechnung macht.

Sturmwarnung

Das Wetter und organisatorische Herausforderungen bestimmen auch den Rest der Woche. Es ist Regen vorhergesagt. Es ist warm, und immer wieder sonnig, aber Mittwoch Nacht regnet es komplett durch - für viele ein Anlass, den Weg zum Zelt zu scheuen und stattdessen bis sieben Uhr morgens im trockenen Partyzelt durchzufeiern.
Im Laufe der Woche nehmen die Sturmwarnungen zu. Einige Zelte klappen zusammen, viele flüchten vor dem drohenden Sturm in die Hallen, in denen sonst Vieh verkauft wird. Im staubigen Schutz der Schweinestaelle werden Zelte und Hängematten und Höhlen aufgebaut. Ferienlagerfeeling pur.
Wegen der Sturmwarnung müssen auch die Zelte auf dem großen, zentralen Platz abgebaut werden. Ich gebe einen letzten Workshop, während um uns herum die Planen vom Zelt abgenommen werden. Die Freitags-Renegade und viele Workshops fallen aus.

Samstag

Am Samstag ist fast alles abgebaut. Auch die Abschluss-Gala kann aus Sicherheitsgründen nicht im riesigen Zirkuszelt stattfinden, sondern muss unter riesigem organisatorischen Aufwand in die Jonglierhalle verlegt werden. Den Rest des Tages verbringe ich im Bar-Zelt, zusammen mit anderen Gestrandeten. Draußen auf dem Platz pfeift der Wind, drinnen ist es warm, zwei Musiker dudeln verträumt mit Saxophonföte und eine Gitarre. Ein paar Akrobaten klettern aufeinander herum, ein paar Yogis liegen herum, ein paar Jongleure schlafen, ein paar werfen Dinge umher. Ein winziger Hundewelpe und ein Kleinkind im Sternchenpyjama klettern bedenkenlos über alle hinweg.
Ich denke darüber nach, was ich diese Woche gemacht habe. Nicht viel und doch alles. Ich habe Muskelkater in Körper und im Hirn, das voll ist mit neuen Mustern und Gedanken. Die EJC öffnet Hunderte von Schubladen im Kopf, und ich werde die nächsten Wochen damit beschäftigt sein, alles neu zu sortieren.

Last man standing

Der letzte Tag ist angebrochen. Manche sind gar nicht erst schlafen gegangen, die letzten Bässe verklingen weit nach Sonnenaufgang. Als ich am Kuppelzelt des Cafe Cabaret meinen Morgen-Kaffee hole, ist der Platz leergefegt. Die Zelte und Slacklines sind wegen des Sturms schon alle abgebaut, die Dekofahnen und das festgebundene aufblasbare Einhorn flattern im heftigen Wind.
Nichts steht mehr. Denke ich. Dann entdecke ich in der Mitte der leeren Wiese unter einem vereinsamten Holzgerüst eine Gruppe Menschen, die den heulenden Windböen bis zu letzt Widerstand leistet. Auf ihren Händen stehend, begleitet von schreddernden Gitarren: Heavy Metal Handstands, jeden Morgen von 10-11.
So nämlich.

Weil jonglieren verbindet. In Gedenken an Matthias Sieg.

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